Die Menschen kriegen den Mund nicht mehr auf!
Ein einfacher Besuch bei REWE löst bei mir eine gedankliche Kaskade über den fortwährenden Zerfall menschlicher Kommunikation aus.
Patrick Michel
28. August 2023
Montag, 28. 8.23, 16:37 Uhr; Rewe
Ich packe die letzte Packung Magerquark in meinen Einkaufskorb und frage mich einen kurzen Moment, ob ich wirklich alles eingekauft habe. Spontankäufe enden meist damit, dass man sich irgendeinen Scheiß kauft. Mit dem Ziel nur ein paar Kleinigkeiten zu kaufen, betritt man den Laden und endet dann mit einem vollen Korb, bestückt mit Sachen, die man ja irgendwann gebrauchen könnte. Zumindest ist es bei mir so.
Auf dem Weg zur Kasse gehe ich an einem Typen vorbei, der vor dem Cola-Regal steht. Er begutachtet die Auswahl und ich frage mich, ob er Zero oder die Normale trinkt. Ich werde es wenige Sekunden später erfahren.
Kurz vor der Kasse werfe ich einen Blick über die Schlangen und observiere: “Wo geht es schneller?”. Ich schlenke kurz nach rechts aus und sehe im Augenwinkel bereits mehrere Personen auf Kasse 4 zugehen. Ich bleibe stehen und stelle meinen Korb an das Ende des Laufbandes. Während ich meinen Magerquark auf die Theke lege, es sind insgesamt 12 Packungen, reiht sich der Typ mit dem Cola-Kasten hinter mir ein. Ich schätze ihn Anfang 30. Er trägt schwarze, knöchelhohe Stiefel, eine schwarze Cargohose und ein zerknittertes Shirt mit einem Aufdruck. Ich kann schemenhaft Feuer, eine Kette und die Umrisse eines Schädels erkennen. Seine langen, ungekämmten Haare sind leger zu einem Zopf zusammengebunden, der ihm bis zur Hüfte reicht. Er trägt einen 3-Tage-Bart und ein schwarzer Stecker ziert seinen linken Nasenflügel. Was auffällt, ist, dass er nicht auffällt. Er wirkt unscheinbar, sein Gesicht ist freundlich und er lächelt mir verhalten zu. Ich erkenne, dass er mich scannt und sein Blick deutet auf Angst hin. Würde ich eine ruckartige Bewegung machen, würde er zusammenzucken, aufspringen und weglaufen wie eine aufgescheuchte Katze.
Ich stelle mir die Situation kurz vor…
Nachdem ich meine etlichen Packungen auf dem Band positioniert habe, drehe ich mich zu ihm und frage ihn, ob er mit dem Kasten vor mich möchte. Unsicherheit überzieht sein Gesicht. Durch den Kopfhörer in seinem linken Ohr, den ich erst jetzt bemerke, bin ich mir nicht sicher, ob er mich gehört hat. Zum Glück habe ich gestikuliert und auf den Platz vor mir gedeutet. Anscheinend versteht er mich und murmelt etwas für mich unverständliches, während er an mir vorbei zieht. Die Art, wie er den Kasten hält, zum Verschnaufen kurz auf seinen Zehenspitzen absetzt und wartet, lässt mich immer sicherer in der Annahme werden, dass ich es hiermit mit einem äußerst scheuen und zurückhaltenden Wesen zu tun habe, das womöglich nicht oft vor die Tür geht. Kontakt scheint ihm ein Fremdwort, sofern dieser nicht durch sein WLAN und einen Bildschirm hergestellt ist. Kurz versucht er die Kiste einfach über den Boden zu schieben. Es gelingt ihm nicht und er greift nach ihr. Ich frage mich, wie jemand allen Ernstes so schwach sein kann. Obwohl er weder besonders dünn noch abgemagert ist, ist er anscheinend nicht in der Lage, mit diesem Kasten fertig zu werden.
Gotte stehe ihm auf dem Weg nach Hause bei.
Bei der Kassiererin angekommen bringt er ein schwaches, kaum verständliches und wiederum lediglich gemurmeltes “Hallo” hervor. Es klingt so, als ob er sich unsicher ist, ob die Kassierin gegrüßt hat. Entweder sind ihm menschliche Gepflogenheiten unbekannt, er ist sie nicht gewohnt oder er spricht die Sprache nicht. Ich mag es nicht deuten. Seine ganze Person wirkt verschwommen und so diffus, einfach schwer zu greifen. Nur Unsicherheit und Zweifel an sich selbst sind deutlich zu spüren. Die Kassiererin nennt den Preis. Er wühlt in seinem Geldbeutel auf der Suche nach der Summe, als ob er sich erneut unsicher ist, ob er Geld dabei hat und selbst wenn, dann nicht, ob es reichen wird. Leise vor sich hin zählend, zieht er erst einen Zehner aus einem der Fächer und kramt dann die restlichen Münzen zusammen. Während dieses Vorgangs vergehen gefühlt Minuten und ich stoße einen leichten Seufzer aus. “Demnächst überlege ich mir das nochmal mit dem Vorlassen”, denke ich mir.
Auf die Frage der Kassiererin, ob er den Bon benötigt, erwidert er wiederum nur mit einem zurückhaltenden Lächeln. Er hat immer noch Kopfhörer im Ohr und ich erahne den zweiten erst jetzt in seiner anderen Hand. Kein Wunder, dass er Probleme mit seinen Münzen hatte.
Er verlässt den Laden, so wie er in ihm stand: Unauffällig und auffällig zurückhaltend. Wie ein Kind, das zum ersten Mal mit den Erwachsenen zum Angeln geht und diesmal die Rute selber halten darf.
Ich sinniere kurz und frage mich, was diesen Menschen so gemacht hat und was er erlebt hat.
Ich verstehe es nicht.
Was ich vermehrt bemerke ist der fortwährende Zerfall menschlicher Kommunikation. Ich sehe Menschen, vor allem jüngere, denen es scheinbar möglich ist, mit Kopfhörern im Ohr zu kommunizieren, während sie nebeneinander stehen. Manchmal frage ich mich, ob sie miteinander telefonieren. Für mich lässt sich dieses Phänomen nicht erklären. Mittlerweile weiß ich nicht einmal, ob dies überhaupt noch als Phänomen gilt. Kommunikation ist rar, sofern sie nicht in den sozialen Medien stattfindet.
Worte wie “Hallo, Bitte und Danke”, habe ich an deutschen Kassen in letzter Zeit nur selten vernommen. Manche Menschen sind überrascht, wenn ich sie mitten auf der Straße begrüße und ihnen einen guten Morgen wünsche. Bereits auf dem Weg zueinander, kurz bevor sich die Wege kreuzen, begegnen sich die Blicke. Jeder nimmt den anderen wahr und nur allzu selten verlässt ein für den anderen hörbarer Ton die Lippen. Wenn wir uns alleine fühlen, dann weil wir selbst dafür verantwortlich sind. “Niemand versteht mich.” Geht ja auch gar nicht, wenn ich den Mund nicht aufmache.
In deutschen Supermärkten werde ich darüber hinaus oftmals Zeuge menschlicher Unfähigkeit zu Handeln und des rapiden Zerfalls der Menschlichkeit.
Menschen, die hinter mir an der Kasse warten, beschweren sich lauthals bei mir und den anderen Kunden über das fehlende Personal an der Kasse, sind aber nicht im Stande, um welches zu bitten.
“Da kann man doch mal ne neue Kasse aufmachen. Das muss man doch sehen.” Das Einzige, was nicht gesehen wird, ist die eigene Unfähigkeit, selbst tätig zu werden.
“Alles muss man selber machen.” Ich sehe leider immer weniger, die dies nach Aussprache auch wirklich tun. Viele bleiben regungslos in Erwartung, dass alles für sie passiert und sich das Schicksal fügt. Ich garantiere, dass es nicht passieren wird.
Jeder muss mit gutem Beispiel vorangehen und Eigeninitiative zeigen, wo er sie von anderen einfordert.
Außerdem sollten wir die Stöpsel aus den Ohren nehmen, um mal wieder wahrzunehmen, was so um uns herum passiert. Wenn wir den Kontakt zu anderen Menschen vermissen, dann müssen wir quasi erst die eigenen Antennen ausrichten.
Wenn wir gehört werden wollen, müssen wir hörbar sprechen.
Wenn wir von jemandem bestimmten gehört werden wollen, dann müssen wir mit diesem sprechen. Anders wird es zu keinem Kontakt und keiner Kommunikation kommen. Anders vereinsamen wir.
Dann hören wir Musik, die nicht in der Lage ist, in uns nachzuklingen, wie ein gutes Gespräch, welches für immer in Erinnerung bleibt. Manche Musik vermag dies auch zu tun.
Einen Nachhall hat allerdings nur eins: Das Wort. Lasst es uns benutzen!
Ach übrigens: Der Typ trinkt normale Cola.
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